Schweiz-EU:  Win-Win à la carte 

06.06.2024
Gourmet 6/24
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Mit dem Verhandlungsmandat über die Bilateralen III liegt eine vielversprechende Paketlösung für das Europa-Dossier auf dem Tisch. Nun gilt es, die Verträge unter Dach und Fach zu bringen. Das ist sowohl für die Gastro- und Hotelbranche als auch für die gesamte Schweizer Wirtschaft und Gesellschaft überlebenswichtig.

Der 8. März 2024 war ein Tag des schweizweiten Aufatmens: Der Bundesrat hat das Verhandlungsmandat mit der Europäischen Union (EU) unterzeichnet und den Dialog mit einem unserer politischen und wirtschaftlichen Schlüsselpartner wieder aufgenommen. An diesem Tag nahm die Beziehungskrise zwischen der Schweiz und der EU ein lang ersehntes Ende. Sie hatte 2010 begonnen und mit dem Verhandlungsabbruch im Mai 2021 ihren Tiefpunkt erreicht.

Schmackhaftes Allerlei

Es konnte endlich eine umfangreiche Paketlösung gefunden werden. Die sogenannten Bilateralen III enthalten eine Reihe von Abkommen zu diversen Schwerpunktthemen wie Forschung, Lebensmittel, Strom, Gesundheit, Streitbeilegung und andere. Die EU macht darin wertvolle Zugeständnisse, zum Beispiel mit einer Schutzklausel im Lohnthema. Demnach können wir unseren starken Lohnschutz beibehalten und den Arbeitsfrieden bewahren. Auch bei der Personenfreizügigkeit – etwa bei der Ausweisung von kriminellen Ausländern – zeigt sich die EU kompromissbereit. 

«Restaurants und Hotels sind seit jeher kulturelle Schmelztiegel. Das Vereinen von Fremdem und Bekanntem an einem Tisch gehört wörtlich zur Kernkompetenz des Gastgewerbes.»

Elisabeth Schneider-Schneiter 

Mehr Arbeit, weniger Personal

Das Vertragskapitel zur Personenfreizügigkeit ist für die Gastro- und Beherbergungsbranche existenziell. Die Personenfreizügigkeit hilft der Branche, eines ihrer grössten Probleme zu lösen: den Arbeitskräftemangel. Laut einer Mitgliederumfrage von GastroSuisse waren 2022 über 60  % aller Hotels nicht mehr in der Lage, geeignetes Personal zu finden. Die Zahl der Vollzeitvakanzen im Gastgewerbe knackte gemäss einer Branchenauswertung ebenfalls Rekordwerte: von 2000 im Jahr 2015 auf 8500 Stellen im Jahr 2022. Gleichzeitig nah-men die Logiernächte zu. Im Jahr 2010 kamen 509 Übernachtungen auf eine Vollzeitstelle, 2022 waren es 605.

Volkswirtschaftlich wertvoll

Jeden Tag verpflegen sich in der Schweiz rund 2,9 Mio. Menschen ausser Haus. Im Jahr 2019 wurden hier 56 Mio. Logiernächte gezählt. Dieser Bedarf lässt sich auch als Wertschöpfung beziffern. So haben die Erwerbstätigen im Gastgewerbe im Jahr 2022 mit rund 12,6 Mrd. Schweizer Franken zum Bruttoinlandprodukt (BIP) der Schweiz beigetragen. Mit einem Anteil von 1,5  % an der Bruttowertschöpfung ist die Gastro- und Hotelbranche mit der Energieversorgung vergleichbar. 

Stellen, die schwer zu besetzen sind

Diese volkswirtschaftliche Leistung ist das Resultat harter Arbeit. Auch das beweisen die Zahlen. Eine Wertschöpfung von 1 Mio. Schweizer Franken wird in der Gastronomie durch 14 Beschäftigte erwirtschaftet, während es in der Gesamtwirtschaft durchschnittlich nur gut 6 Beschäftigte sind. Tatsache ist, dass sich für viele Jobs schlicht keine Schweizerinnen und Schweizer finden lassen; sei es, weil die Tätigkeiten gemeinhin als unattraktiv gelten, gering entlöhnt werden, körperlich anspruchsvoll oder an unregelmässige Arbeitszeiten gekoppelt sind. 

Alter vor Arbeit

Das Problem wird durch einen demografischen Megatrend verschärft. Die arbeitende Bevölkerung wird in der Schweiz immer jünger, während immer mehr ältere Menschen in Rente gehen und diese – der guten medizinischen Versorgung sei Dank – bis ins hohe Alter beziehen. Hinzu kommt die anstehende Pensionierungswelle der Babyboomer. Sie wird dazu führen, dass es in unserem Land absolut betrachtet immer weniger Menschen im erwerbstätigen Alter gibt.

 «Unsere Beziehung zur EU  ist für die Schweizer Wirtschaft  zentral – für die Gastro- und  Beherbergungsbranche erst recht.» 

Elisabeth Schneider-Schneiter 

Alle an einen Tisch

Restaurants und Hotels sind seit jeher kulturelle Schmelztiegel. Das Vereinen von Fremdem und Bekanntem an einem Tisch gehört wörtlich zur Kernkompetenz des Gastgewerbes. Im Jahr 2022 stammten über 50  % der Erwerbstätigen in der Gastronomie aus dem Ausland. Mit der Integrationsvorlehre Riesco bietet die Hotel & Gastro formation Flüchtlingen und vorläufig aufgenommenen Personen die Möglichkeit, ein Jahr lang eine praxisbezogene Ausbildung in der Gastronomie zu absolvieren. 

Jedes Messer hat zwei Seiten

Solche Ansätze sind auf jeden Fall zielführender als die undifferenzierte Zuwanderungsinitiative der SVP. Diese Initiative blendet grosszügig aus, dass die Erwerbstätigenquote von Personen aus der EU für gewisse Länder 85  % und mehr beträgt. Sie setzt Zuwanderung mit illegaler Migration gleich, was Augenwischerei ist.

Ganz gleich welcher Nationalität, es gibt immer Menschen, die unser Sozialleistungssystem missbrauchen. Mit der Zahl der Zugewanderten steigt tatsächlich die Kriminalitätsrate. Und für Schweizer Bildungsinstitutionen wird es zunehmend schwierig, das hohe Niveau aufrechtzuerhalten. Also ja, die Zuwanderung hat Nachteile. Doch wir lösen sie nicht, indem wir Fakten verzerren und die Angst vor zugewanderten Menschen schüren.

Mut zur Chance

Unsere Beziehung zur EU ist für die Schweizer Wirtschaft zentral – für die Gastro- und Beherbergungsbranche erst recht. Bringt unsere Regierung die Bilateralen III in trockene Tücher, so sichert das manchem Branchenakteur das Überleben. Das bedingt allerdings, dass wir Zuwandernde in der Schweiz glaubwürdig willkommen heissen, sie integrieren und sie beruflich qualifizieren. Nur so können diese Menschen gemeinsam mit uns zum Wohlstand der Gesellschaft beitragen. In diesem Sinn sollten wir die Chancen der Bilateralen III nutzen und die Risiken mutig adressieren.

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