
Urs Kessler verabschiedet sich nach 38 Jahren von den Jungfraubahnen
Von der ersten Marketingstrategie in Asien bis zur V-Bahn: Nach 38 Jahren bei den Jungfraubahnen, davon 17 Jahre als CEO, blickt Urs Kessler auf eine Karriere voller Pionierarbeit und mutiger Entscheide zurück. Im Interview spricht er über Erfolge, Herausforderungen und darüber, was ihn mit Fussballer Pelé und dem Philosophen Konfuzius verbindet.

Herr Kessler, Sie sind seit 38 Jahren bei den Jungfraubahnen tätig, davon 17 Jahre als CEO. In welcher Funktion haben Sie begonnen?
Als Leiter Verkaufsförderung. Eingestellt wurde ich vom damaligen Direktor Dr. Roland Hirni. Auf meine Frage, was er von mir erwarte, antwortete er: «Mach mal öppis!»
Hatten Sie von Anfang an das Ziel, hoch hinaus zu wollen?
Nein, ich freute mich einfach, zurück in meine Region zu kommen. Ich bin in Gsteigwiler aufgewachsen – das erzähle ich gern unseren internationalen Gästen: «Ein Dorf mit 360 Einwohnern und 362 Küchen.» (lacht) Heute stimmt das zwar nicht mehr, aber der Spruch kommt immer gut an. Eigentlich wollte ich ja Bauer werden.
Jetzt sind Sie CEO der Jungfraubahnen und gelten als treibende Kraft hinter deren Erfolg. Was waren die wichtigsten Meilensteine, was die grössten Prüfsteine?
Ein Meilenstein war sicher der Aufbau eines Vertreternetzes in Asien – mitten in der Finanz- und Wirtschaftskrise 1997/98, damals noch als Marketingleiter. Wir waren in Indien, China und anderen Märkten aktiv, lange bevor Schweiz Tourismus dort präsent war, und wir setzten neue Massstäbe. Ich habe stets antizyklisch gehandelt – ganz im Sinne von Pelé: Geh nicht dorthin, wo der Ball ist, sondern, wo er sein wird.
Eine erfolgreiche Taktik, die bis heute spürbar ist.
Ja, der Erfolg zeigt vor allem, wie wichtig eine langfristige Strategie ist. 1987 kannte uns in Asien kaum jemand – heute sind wir Marktführer und begrüssen jährlich über 700 000 asiatische Gäste.
Was waren weitere Meilensteine?
Die Entwicklung der Marke Top of Europe, das 100-Jahr-Jubiläum der Jungfraubahnen 2012 und die strategische Positionierung der Erlebnisberge: Früher hing unser Erfolg allein vom Jungfraujoch ab, heute sind wir mit Firstbahn, Harderbahn & Co. breiter aufgestellt.
Und natürlich die V-Bahn – ein Generationenprojekt, das 2012 angekündigt wurde. Von der Idee bis zur Eröffnung im Dezember 2020 vergingen 2908 Tage, die reine Bauzeit betrug nur 908 Tage. Ein ehrgeiziges Projekt und zugleich eine der grössten Herausforderungen meiner Karriere neben der Coronapandemie.
Ein gutes Stichwort: Corona kam, als die Bauarbeiten in vollem Gang waren.
Genau. Ich war zu Beginn der Krise noch in China unterwegs und als ich später am fast leeren Flughafen in Bangkok stand, wusste ich: Das wird schwierig.
Wie haben Sie reagiert?
Ich startete das grösste Sparprogramm unserer Geschichte – mit einem Ziel: gesund und gestärkt aus der Krise zu kommen. Die Baustellen blieben zwar offen, aber der Betriebsstopp kostete viel. Die V-Bahn sollte eigentlich mit 470 Millionen eigenfinanziert werden, doch am Ende waren es 510 Millionen Franken. Während 83 Tagen standen die Bahnen still und wir mussten noch rund 150 Millionen Franken investieren. Das sorgte schon für eine gewisse Nervosität. Dass wir ohne Entlassungen durchkamen, war wohl die grösste Leistung.
Ihr Führungsstil hat sich also auch in der Krise bewährt. Was ist ihr Erfolgsrezept?
Vorbild sein, präsent sein, zuhören. An den Wochenenden bin ich oft im Gebiet unterwegs und im direkten Austausch mit den Mitarbeitenden – vom Geschäftsleitungsmitglied bis zum Gleisarbeiter, denn jede und jeder zählt. Entscheidend ist zudem eine klare Kommunikation – die wohl meist unterschätzte Führungseigenschaft.
Und wie gelingt es Ihnen, Menschen für Ihre Ideen zu begeistern?
Nur wer selbst begeistert ist, kann auch andere begeistern. Seit 38 Jahren arbeite ich mit sehr viel Leidenschaft für die Jungfraubahnen. Ich halte es mit Konfuzius: «Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten.»
Und wie gehen sie mit Kritik und Skepsis um?
Kritik gehört dazu. Wer aus Angst vor Gesichtsverlust oder dem Wunsch, allen zu gefallen, keine Entscheide trifft, nimmt seine Führungsverantwortung nicht wahr. Entscheiden heisst, Risiken einzugehen und Kritik auszuhalten – doch genau das scheuen immer mehr Menschen.
Woher kommt Ihre Entscheidungsstärke?
Das habe ich in Asien gelernt – Speed & Efficiency. Treffe ich zehn schnelle Entscheidungen, sind zwei vielleicht falsch. Aber auf die acht richtigen kann ich nicht verzichten.
Eine häufige Kritik betrifft den Massentourismus durch die Jungfraubahnen. Ist sie berechtigt?
Eine Gegenfrage: Ist es falsch, im Tourismus erfolgreich zu sein und Geld zu verdienen? Jede Unternehmung muss Gewinne erzielen, um in die Zukunft investieren zu können.
Und wie nachhaltig ist er?
Kein Schweizer Tourismusunternehmen – und das sage ich ganz dezidiert – ist in Sachen Nachhaltigkeit so weit wie die Jungfraubahnen. Unser Geschäftsbericht 2023 folgte erstmals dem höchsten Standard der Global Reporting Initiative (GRI). 2024 wird das weiter konkretisiert. Nachhaltigkeit, Mensch und Umwelt sind seit dem Bau der Jungfraubahnen Teil unserer DNA.
Wird die Diskussion über Tourismus und Nachhaltigkeit also zu einseitig geführt?
Tourismus ist immer mit Mobilität verbunden – dieses Grunddilemma bleibt bestehen. Aber man muss auch die Relationen sehen: Jährlich reisen 80 Millionen Menschen aus Übersee nach Europa, 3,2 Millionen davon in die Schweiz. Gleichzeitig fliegen jährlich 2,2 Millionen Schweizerinnen und Schweizer nach Übersee. Diese Verhältnisse werden oft übersehen.
« Vorbild sein, präsent sein, zuhören. An den Wochenenden bin ich oft
im Gebiet unterwegs und im direkten Austausch mit den Mitarbeitenden – vom Geschäftsleitungsmitglied bis zum Gleisarbeiter, denn jede und
jeder zählt.»

Und wie sieht Ihre Lösung aus?
Lenken statt fördern. Wir brauchen keine zusätzlichen Gäste in der Hochsaison, sondern eine gleichmässigere Verteilung übers Jahr. Eine Massnahme dafür ist die obligatorische Sitzplatzreservation aufs Jungfraujoch von Mai bis August – so lassen sich Spitzen brechen.
Können auch Events zur Lenkung beitragen?
Absolut – und sie sind zugleich ein starkes Marketinginstrument. 1997 gründeten wir das SnowpenAir, um den Saisonschluss zu beleben. So konnten wir zeigen, wie attraktiv der Winter im März und April noch ist und neue Gäste gewinnen.
Nach 25 Jahren ist jetzt Schluss – weshalb?
Während der Verhandlungen zur V-Bahn forderte eine Einsprache, dass das Snopen-Air nicht mehr auf der Kleinen Scheidegg stattfinden soll. Ein Versuch, einen ähnlichen Event auf dem Männlichen zu etablieren, scheiterte – mit 6000 statt 10 000 Besuchern und einem Budget von fast zwei Millionen war es wirtschaftlich nicht tragbar. Und ohne Top-Acts kommen einfach nicht genug Gäste auf den Berg.
Es gibt also keine Nachfolgeevents?
Wir setzen jetzt auf kleinere Formate wie After Slopes Sounds im Terminal – im April mit Stubete Gäng, Nils Burri und The Monroes. Aber nicht mehr auf dem grossen Level mit Stars wie Simply Red, Bryan Adams oder Zucchero.
Nach einem Rekordgewinn von fast 80 Millionen Franken schüttete die Jungfraubahn Holding letztes Jahr Rekorddividenden aus. Was waren die Erfolgsfaktoren?
Das war unser bisher mit Abstand höchster Gewinn. Die Corona-Krise zwang uns, Prozesse zu optimieren und die Produktivität zu steigern. Gleichzeitig hielten wir unser Marketing konsequent aufrecht – ein entscheidender Faktor. Gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, den Kunden Wertschätzung zu zeigen.
Wie sah diese Wertschätzung aus?
Ich war 2021 dreimal in Asien, unter schwierigsten Bedingungen mit unzähligen Tests, aber es hat sich gelohnt. Mein einziges Problem war, dass ich ständig zu spät war, da die Kunden endlos Zeit hatten. Kaum jemand im Tourismus nutzte diese Chance.
Haben Sie mit diesem Erfolg gerechnet?
Nein, 2023 hat uns alle überrascht. Wir hatten über eine Million Gäste auf dem Jungfraujoch – schneller als erwartet. Das führte zu einem Rekordgewinn von 79,6 Millionen Franken, einem EBITDA von 139,4 Millionen und einer EBITDA-Marge von 50,1 %. Der Return on Sales lag bei 28,6 % – absolute Spitzenwerte. Es ist uns also gelungen, gesund und gestärkt aus der Krise zu kommen.

Weitere Grossprojekte stehen an – welche konkret?
Die Erneuerung der Firstbahn, die Erweiterung des Berghauses auf dem Jungfraujoch und die Indoor-Attraktion Vertical Experience am Eigergletscher. Ausserdem wird die Berner Oberland-Bahn mit einem 15-Minuten-Takt zur ersten S-Bahn der Alpen. Dann bauen wir die Solaranlage Hintisberg und das Vier-Sterne-Superior-Hotel Interlaken Ost mit rund 200 Zimmern. Der Spatenstich ist für 2025 geplant, unter einer internationalen Marke, die vorerst noch geheim bleibt.
Wie schwer ist es, diese Projekte nicht mehr selbst abschliessen zu können?
Ziemlich schwer. Wichtig ist jedoch, dass wir – wie bei der V-Bahn – den Unternehmenswert weiter steigern. Ein weniger beachtetes, aber lange geplantes Projekt geht übrigens noch vor meinem Abschied online: die digitale Buchungsplattform Top of Travel, «all in one for Switzerland».
Worum geht es?
Gäste können ihre gesamte Reisekette einfach und bequem bei uns buchen – von Sportpässen und Adventure-Angeboten bis zu SBB-Tickets, Mietautos und Hotels. Unser Ziel: die Schnellsten und Besten sein, vor allem bei unseren eigenen Produkten. Es geht um Convenience für die Gäste – ein zentrales Buchungssystem, massgeschneiderte Angebote und nahtlose Abläufe.
Was macht grundsätzlich den Erfolg Ihrer Projekte aus?
Eine glasklare Positionierung. Ein Beispiel: 2004 übernahmen wir die Firstbahn mit 27 Millionen Franken Schulden. 2014 hatten wir noch einen Verlust von 1,5 Millionen. Die Neupositionierung als Grindelwald-First – Top of Adventure brachte dann den Durchbruch. 2023 lag der Gewinn bei 15,1 Millionen Franken. Jeder Berg braucht ein eigenes Gesicht.
Welche Rolle spielt die Gastronomie für das Gästeerlebnis?
Eine zentrale. Sie ist fast so wichtig wie das Wintersporterlebnis oder die Ausflugsziele. Die V-Bahn sollte ein Wachstumsmotor sein – und das hat funktioniert: Grindelwald hat heute 72 Gault-Millau-Punkte, zuvor keinen einzigen. Die Entwicklung war rasant, doch im Vergleich zu anderen Destinationen gibt es noch Potenzial.
Wie hat die zentrale Produktionsküche im Grindelwald Terminal Qualität und Effizienz der eigenen Restaurants verändert?
Während der Bauzeit erkannten wir den Mehrwert einer zentralen Küche und optimieren seither kontinuierlich unser Angebot. Entscheidend bleibt: Jedes Restaurant braucht sein eigenes Profil. Das Restaurant Eigergletscher steht mit seinen Cordon Bleu für klassische Schweizer Küche, während auf der Kleinen Scheidegg familienfreundliche Gerichte wie die Röstizza im Fokus stehen.

Gäste können ihre gesamte Reisekette einfach und bequem bei uns buchen – von Sportpässen und Adventure-Angeboten bis zu SBB-Tickets, Mietautos und Hotels.
Und auf dem Jungfraujoch die indische Küche…
Ja, genau. Das Restaurant Bollywood eröffneten wir 2000 als erstes Bergrestaurant in Europa mit authentisch indischer Küche und Buffet. Die zwei indischen Köche sind bis heute bei uns. Die Publicity war enorm. In der Hochsaison verpflegen wir dort täglich bis zu 1400 Gäste – und längst nicht nur aus Indien.
Sind die Gäste aus Indien eine wachsende Zielgruppe?
Ja, vor allem zur Stärkung der Nebensaison. In Indien liegt die Hochsaison im April, Mai und Juni. Dieses Potenzial erkannte ich früh und reiste bereits 1996 nach Indien.
Sie hinterlassen Ihrem Nachfolger grosse Fussstapfen.
Das kann ich nicht beurteilen, aber vieles ist für die kommenden Jahre auf Kurs. Unsere Marktposition in Asien ist stark, das Unternehmen steht auf soliden Füssen und hat grosses Potenzial für die Zukunft. Darauf lässt sich aufbauen.
Im Juni heisst es für Sie Abschied nehmen. Sie werden als Verwaltungsratspräsident des Kursaal Interlaken gehandelt?
Das stimmt. Wir verfolgen dort eine neue One-Company-Strategie, die Kursaal und Casino enger verbindet. Ausserdem werde ich als Kandidat für das Präsidium des Schweizer Eishockeyverbands aufgestellt.
Es gab sicher viele Angebote.
Ja, auch aus dem Tourismus. Aber nach Jahrzehnten als Botschafter der Jungfraubahnen wäre ein Wechsel ins Bündnerland oder Wallis unehrlich gewesen. Ich werde nicht mehr im Tourismus arbeiten, sondern meine Freizeit bei den vielen Schweizer Tourismusdestinationen geniessen.
Noch eine letzte Frage: Welchen Bezug haben Sie eigentlich zur Walliser Gemeinde Fieschertal?
(lacht) Sie meinen, weil die Bergstation des Jungfraujochs auf Fieschertaler Boden liegt? Ich pflege seit Jahren einen engen, partnerschaftlichen Austausch mit der Gemeinde. Zudem leisten wir durch unsere Steuerzahlungen sicher auch einen Beitrag zur Entwicklung der Gemeinde.